Der erste Eirene-Freiwillige – Henryk Holstein – verläßt Ometepe.
Juli 2011 – Rundbrief 3
Das Leben schreibt seine Geschichten selbst. Gleich zu Beginn meiner Ankunft auf Ometepe überlegte ich mir, wie ich euch ein Bild von dieser so anderen, aber manchmal doch auch so ähnlichen Welt vermitteln könnte. Immer wieder dachte ich, lass dir Zeit, bevor du vorschnell urteilst, und wirklich, viele Urteile, die ich auf diese Weise fällte, erwiesen sich letztendlich als falsch. Steht mir überhaupt das Recht zu, nach einer solch kurzen Zeit ein Urteil zu bilden und es dann vermitteln zu wollen? Diese Frage begleitet mich bis heute.
Schleichend, fast unmerklich gewöhnte ich mich hier an das alltägliche Leben. Inzwischen erscheint mir schon alles stinknormal. Mir ist klar, wie und wo ich mich bewegen kann und in Situationen, in denen ich unsicher bin, finde ich erstaunlich schnell Hilfe. Ich kenne die Transportmöglichkeiten, weiß in problematischen Momenten mehr oder weniger, wie ich mich verhalten muss und fühle mich mittlerweile in Nicaragua wirklich sicher. Das hängt wohl wahrscheinlich auch damit zusammen, dass mir bis jetzt noch nichts Ernsthaftes passiert ist.
Vieles kommt mir schon so normal vor. Oftmals überfällt mich das Gefühl, das Leben in Deutschland und meine Kultur ein Stückweit vergessen zu haben. Alles ist schon so weit entfernt und wenn auch 10 Monate wenig erscheinen mögen, so ist es in einem anderen, fremden Land eine lange und wirklich prägende Zeit. Was in dieser Zeit wirklich klar erkennbar wurde ist für mich die Erfahrung, dass es schlichtweg fast unmöglich ist ein Bild dieser Welt zu “malen”, so wie ich des öfteren scheiterte, den Nicaraguanern unsere Kultur näher zubringen. Beide Gesellschaften sind jeweils ein viel zu großes und komplexes Gebilde, als dass man es so einfach erklären könnte.
Manche “Bilder” muss man einfach selbst erlebt haben und kann sie kaum in Worte fassen.Trotz einiger Zweifel und Schwierigkeiten möchte ich euch wenigstens Ansätze dieser Welt beschreiben. Viele Tendenzen ließen sich ja auch schon aus den vorherigen Rundbriefen auslesen, aktuell sollen nun weitere folgen.
Eine wichtige, immer wieder erneut ins Auge springende Tatsache in diesem Entwicklungsland ist die überall präsente Armut. Viele fragen, vermute ich jedenfalls, wie sieht die Armut in einem Land wie Nicaragua aus? Wie hast du sie persönlich erlebt? Wie interveniert die Regierung? Welche Rolle spielen NGOs (Non Governmental Organizations)? Ich weiß nicht, ob ihr euch je diese Fragen gestellt habt, ich habe es jedenfalls und werde versuchen, sie hier zu beantworten.
Die Armut sieht man schon auf den ersten Blick. Viele Menschen leben in einfachen Häusern, die manchmal nur aus Brettern mit einem Blechdach bestehen. Das heißt aber nicht, dass alle Häuser so aussehen. Die Mehrheit der Häuser besitzt häufig schon ein Fundament und ruht auf zementierten Mauern, was besonders in der Regenzeit von Wichtigkeit ist. Die Wände im Haus sind überwiegend Stellwände, nach oben geöffnet, sodass ein normales nicaraguanischen Haus meist über keinen Platz für viel Privatsphäre verfügt.
Allgemein schläft man meist mit seinen Geschwistern in einem Zimmer oder sogar mit der ganzen Familie, in vielen Fällen mehr als acht Personen. Es gibt wenige asphaltierte Straßen, allgemein nur die Hauptstraßen, und die sind ganz selten in gutem Zustand. Auf allen anderen Straßen dominieren Sand und Steine. In der Regenzeit werden sie fast immer überschwemmt, bilden einen reißenden Fluss und durch die vielen Steine, die im Nachhinein verbleiben, sind sie mit dem Auto oder Fahrrad fast unpassierbar.
Die Armut zeigt sich aber auch durch zahllose Obdachlose, Bettler und Straßenkinder vor allem in größeren Städten wie Managua oder den touristischen Zentren wie Granada und Leon. Bauern bilden immer noch einen großen Teil der Bevölkerung, die Frauen bewirtschaften traditionell den Haushalt. Viele Arbeitslose und eine hohe Geburtenrate verstärken die Misere. Besonders oft hörte ich von Einheimischen, die Armut in Nicaragua bestehe vorwiegend in den Köpfen der Bevölkerung und beherrsche zum Glück nicht den Magen. Überraschenderweise fehlt wirklich nur in Einzelfällen genügend Nahrung.
Dies waren meine ersten Eindrücke, die ich von der Armut in Nicaragua erhielt. Immer wieder hörte ich auch, wie arm sich die Menschen selber fühlen. Manche stört es nicht, arm und bescheiden zu leben, manche fühlen Scham. Viele beschweren sich aber auch oder nutzen die Armut als Ausrede, um nichts zu ändern, weil sie ja eh schon arm sind. Dennoch, ich fing an mich zu fragen, wie es sein kann, dass fast jeder schon einen Fernseher oder ein Handy besitzt, das tagtäglich benutzt wird? Oder auch: woher kommt das Geld für den hohen Alkoholkonsum?Besonders im Hinblick darauf, dass die meisten Männer auf Ometepe Bauern sind und ein Bauer am Tag zwischen 50 bis 80 Cordoba verdient. Das Handyaufladen ist beispielsweise teuer im Verhältnis zu dem, was ein Bauer verdient. Zudem sehe ich viele Männer tagtäglich in den Bars trinken, ein Widerspruch für mein Empfinden.
Viele Männer sind Väter und das sehr häufig auch noch mehrfach! Mit der Zeit fand ich heraus, dass viele dieser Männer dauernd ihr Handy benutzen, lieber außerhaus trinken gehen oder ihr Geld in teure Kleidung stecken als in gutes Essen. Manche verzichten einfach auf ein Essen am Tag oder sparen generell an Obst und Gemüse, um auf diese Weise zu zeigen, an unserem alltäglichen Leben teilzunehmen. Äußere Präsenz ist wirklich wichtig und wird demonstriert.
Die Mehrheit der Nicaraguaner lebt in den Tag hinein und denkt nicht viel über das Morgen nach. Das Geld wird meist schnell ausgegeben anstatt es zu sparen. So bleibt meist auch kein Geld für eine Krankenversicherung übrig. Zum Glück gibt es öffentliche, kostenfreie Krankenhäuser. Leider sind sie ständig überfüllt und die Hygiene ist für unser Verständnis vollkommen unzureichend. Besonders auffällig ist auch, dass nach der Erntezeit viele Männer, aus manchen Gemeinden bis zu 70 Prozent, nach Costa Rica wechseln um zu arbeiten. Sie erzielen dort ein weitaus besseres Einkommen, übersehen aber, dass der Lebensstil dort auch wesentlich teurer ist. Zudem höre ich immer wieder, dass viele dort übermäßig trinken und ihre Familie in Nicaragua vergessen, sogar oft ohne Geld nach Hause zurückkehren.
Eine weitere Tatsache, die erwähnt werden muss ist, dass viele Angehörige im Ausland arbeiten und oftmals etwas ihren Familien zum Unterhalt schicken.
Das Leben in der Stadt sieht etwas anders aus als auf dem Land. In Managua stehen Einkaufszentren, die sich nicht im geringsten von den deutschen unterscheiden. Dort gibt es generell alles, was man sich auch bei uns in den großen Städten kaufen kann, sogar die Preise sind die gleichen. Umso krasser fällt einem der Unterschied zwischen arm und reich auf, wenn man neben all dem Luxus ein Barrio (Slumgebiet) durchquert, was nur aus Planen erbaut ist und jeden Winter durch den starken Regenfall aufs neue überschwemmt wird.
Ometepe profitiert glücklicherweise von einer starken Gemeinschaft. Falls hier jemand ernsthafte Probleme hat, wird schnell geholfen. In den Barrios von Managua fehlt aber oft jede Art von Hilfe, von Seiten der Regierung geschieht in dieser Hinsicht rein gar nichts. Durch die Armut hervorgerufen ist Managua gefährlich. Häufig geschehen bewaffnete Überfälle, glücklicherweise aber kommt es selten zu einem Mord. Dies sind dann eher Extremfälle, wenn sich zum Beispiel das Opfer gewehrt hat und seine Sachen nicht hergeben wollte.
Andere Städte sind ruhiger, es gibt zwar auch Stadtteile, die als gefährlich gelten, dennoch kann man sich generell sorgenfrei bewegen. In Managua sollte man unbedingt nur mit einem einheimischen Bewohner ausgehen, wenn einem die Stadt noch fremd ist.
In der Regierung herrscht bekanntermaßen einträgliche Korruption, viel zu oft erreicht das für sie vorgesehene Geld nicht die Bevölkerung. Das heißt nicht, dass gar nichts ankommen würde. Die Projekte der Regierung für die notleidende Bevölkerung helfen aber leider viel zu selten mit viel zuwenigen finanziellen Mitteln. Ohne die Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) wäre die Situation weitaus dramatischer. Viele dieser NGO gewährleisten grundlegende medizinische Versorgung, liefern Nahrungsmittel und vermitteln Bildung.
Die freiwillige ausländische Unterstützung ergänzt in vielen Sektoren die unterlassene Verpflichtung des Staatsapparats. Ich hoffe und wünsche, dass Nicaragua irgendwann selber seine Aufgaben erledigen kann, sehe aber die Unterstützung des Auslands noch für längere Zeit als notwendig an.
Die Armut zeigt allerdings nicht nur negative Seiten. Man kann in diesem schönen Land bescheiden leben. Auch ich lebe hier in einem einfachen Zimmer, in einem einfachen Haus und finde es gar nicht so schlimm, einfach zu leben, stressfreier. Fast alles, was was ich brauche, finde ich ein paar Schritte entfernt an einem kleinem Kiosk. Der bietet zwar nicht die volle Bandbreite an Produkten, die ich von Deutschland gewohnt bin. Es reicht aber in jedem Fall, um zu überleben und sogar, um sich ausgeglichen zu ernähren.
Mit der medizinischen Versorgung im Alter ist es natürlich schwieriger, immerhin werden Eltern nicht in Altersheime abgeschoben. Stattdessen kümmert sich die ganze Familie ehrenvoll um pflegebedürftige Angehörige.
Auch gefällt mir, dass mehr mit den Nachbarn kommuniziert wird, Häuser und Zimmer sind größtenteils offen, man schließt sich nicht alleine zu Hause ein wie in Deutschland.
Was einem auch sofort ins Auge fällt sind die Straßenverkäufer. An jeder Ecke sitzen welche, wenn sie nicht gerade lautstark rufend durch die Straßen und Busse laufen oder an den Ampeln auf die Autos warten. Bepackt mit Essen, Getränken, Zeitungen, technischen Kleinigkeiten oder Medikamenten sind sie allgegenwärtig. Das war anfangs schon etwas völlig Ungewohntes, aber durch meine vielen Busreisen ist es jedesmal ein faszinierendes Schauspiel geworden. Unvorstellbar, wie in einem total überfüllten Fahrzeug sich diese Händler mit ihren Waren mühsam durch den Gang zwängen!
Für den gleichen Preis wie auf der Straße erhalte ich meinen Snack für zwischendurch. Im Gegensatz zu Deutschland ist der Machismus viel präsenter in der Gesellschaft, zwar ohne Akzeptanz, aber dennoch irgendwie fast als etwas Normales angesehen. Die Frau wird geschlagen, der Mann erlaubt sich hin und wieder Affairen. Eine Ehefrau dagegen gilt schnell als Schlampe, wenn sie sich mit anderen Männern einlässt. Trotzdem wird das Thema Machismus glücklicherweise nicht tabuisiert, viele Organisationen bis hin zur Regierung setzen sich für die Frauenrechte ein.
Wie in vielen Ländern auch: der Machismus zieht sich durch alle Schichten! Ich dachte anfangs,die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau zu ihrem Mann wäre der Grund,da die meisten Frauen wie oben schon genannt nur als Hausfrauen arbeiten. Es gibt aber auch viele unabhängige Frauen, die geschlagen werden! Unter den Jugendlichen sehe ich zahlreiche Frauen, die studieren und sich engagiert gegen den Machismus wehren. Selbst in der männlichen Jugend existiert eine Kontrabewegung, die sich öffentlich gegen den Machismus ausspricht.
Starke Unterschiede gibt es natürlich auch innerhalb Nicaraguas. Der Norden gilt generell als machistischer, einen Unterschied zwischen Land- und Stadtleben gibt es auch. Ometepe ist generell relativ ruhig, nur selten wird ein Mann handgreiflich, wie beispielsweise in Altagracia, wo ich lebe. Von Rivas, der Bezirkshauptstadt, die nicht weit von der Insel liegt, erfolgt eine ziemlich gute Kontrolle. Die Frau kann den Mann mit einem Anruf anzeigen, der seine Verhaftung oder bei Tatwiederholung einen Prozess riskiert.
Traurigerweise wird immer noch als Erziehungsmethode akzeptiert, das eigene Kind zu schlagen. Viele Mütter erzählen mir bei einem Gespräch, dass sie ihr Kind unter Kontrolle hätten, schließlich läge der Gürtel ja griffbereit. Interessant ist hier, dass die Anwendung der Gewalt in dem Falle meist von seiten der Frau ausgeübt wird und das Kind somit in einem gewalttätigen Umfeld aufwächst.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird früher oder später Gewalt als Lösungsmethode angesehen, praktiziert und weitergegeben. Leider erwarte ich nach meinen erworbenen Erfahrungen indieser Hinsicht und für die Zukunft keine großen Veränderungsschritte in der Gesellschaft.
Nochmals möchte ich anmerken, daß mir in meinem neuen Umfeld manche Dinge stärker ins Auge fallen als in Deutschland, weil ich gezielter darauf achte, wenn nicht sogar manchmal danach suche. Ich lernte einige Leute näher kennen und beobachtete mehrere Familien, bildete mir vielleicht voreilig ein Urteil. Weiterhin gibt es hier soviel zu lernen und noch soviel zu erkunden, was ich nicht verstanden habe. Ich möchte, auch wenn es mir vielleicht nicht ausreichend gelingt, meine persönlichen Erfahrungen darstellen und mich nicht als überschlauer Autor über die Menschen hier stellen und sie analysieren. Das war nicht und nie mein Ziel. Vielmehr wünsche ich uns die Erkenntnis, dass der Machismus in Deutschland bisher ebenfalls ein ungelöstes Problem ist und nur weil wir die Armut vielleicht nicht so direkt vor den Augen haben wie es hier der Fall ist, berechtigt es uns nicht – in Anbetracht unseres Lebensstils – die Augen davor zu verschließen. Auch in Nicaragua spüre ich täglich das Leben in einer globalisierten Welt und alle Menschen sollten sich dafür einsetzen, und vor allem einsetzen können, die gleichen Rechte zu besitzen, zu akzeptieren, zu praktizieren und zu genießen.
Von der wunderschönen Insel Ometepe grüßt euch alle ganz herzlich
euer Henryk