Ernesto Cardenal

Unser Freund, Dr. Hermann Schulz, schickte uns den nachfolgenden Artikel zu Ernesto Cardenal zu.

„Wenn unser Stündlein vorhanden ist!“
Fast ein Nachruf, vielleicht doch ein Nachruf

In der vergangenen Woche gab es täglich Telefonate hier bei uns zwischen den Freunden des alten Dichters: Ernesto Cardenal liegt im Sterben. Die Nachricht ging auch durch die Weltpresse. Mich erreichten regelmäßig Fotos aus dem Hospital; die Ärzte hatten ihn wohl schon aufgegeben, ebenso seine Freunde in Nicaragua, die um sein Bett herum standen. Der Dichter an medizinische Geräte angeschlossen mit leicht geöffnetem Mund, regungslos. So sieht jemand vor dem Sterben aus, dachte ich.
Ein Magazin bat mich um den Text eines Nachrufes, ich sei doch derjenige, der ihn schon seit den 60er Jahren kennen würde und als Verleger und Freund die engsten Kontakte hätte.
Einer solchen Bitte konnte ich mich nicht verschließen und machte mich an die Arbeit. Für mich eine emotional starke, ja abenteuerliche Reise in die Anfänge meiner Arbeit als Verleger, auf der Suche nach interessanten Autoren, nach Konzepten für den kleinen Verlag, den Johannes Rau mir übergeben hatte.
Als ich das erste Buch des Dichters heraus brachte („Zerschneide den Stacheldraht“ Lateinamerikanische Psalmen. 1967) hatte ich, ohne es zu ahnen, das wichtigste poetisch-theologische Dokument der Theologie der Befreiung öffentlich gemacht. Als junger Verleger hatte ich den Ehrgeiz, jeden Autor persönlich kennen zu lernen. Also suchte ich auf der Landkarte Nicaragua und buchte den Flug, ohne ein Wort Spanisch- Kenntnisse, ohne eine Ahnung von den politischen Verhältnissen des Landes.
Das sollte sich bald gründlich ändern!
Rückblickend würde ich sagen, das mit dieser Reise die Weichen des kleinen Verlages ganz neu gestellt wurden: Nach Lateinamerika folgte Schwarz-Afrika, Romane, Gedichte – und auch Geschichtswerke, denn wir stellen fest, dass das deutsche Publikum von den Entwicklungen dieser Kontinente keine Ahnung hatte. Ohne diese erste Reise hätte ich Eduardo Galeano nie kennengelernt, keine Gioconda Belli, keinen Sergio Ramirez, die bald in der ganzen Welt mit ihren Büchern wichtige Rollen spielten.

Es waren oft rätselhafte Wege zu Entdeckungen: Bei unserer zweiten Reise nach Nicaragua (1972, auch Mexico und Venezuela auf dem Programm) hatten meine Frau und ich eine lästige Hautkrankheit mitgebracht, gegen die die Ärzte bei uns kein Mittel fanden. Es war zum Verzweifeln!
Da erreichte mich eine Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung, an einem literarischen Kongress in Costa Rica teilzunehmen. Eigentlich war nicht daran zu denken, kurz nach der Rückkehr und wegen der Arbeitslast im Verlag wieder eine Reise zu machen, aber die Hoffnung auf Heilung gab den Ausschlag: Noch auf dem Weg vom Flughafen San José zur Universität bat ich den Taxifahrer, an einer Apotheke zu halten. Ich zeigte der Bedienung meine schlimm von Pusteln befallene Brust. Der Mann lächelte, griff in ein Regal und stellte eine Flasche mit milchiger Flüssigkeit vor mich hin. Eine einfache Kalklösung, erklärte er, eine Bananen-Krätze hätte mich befallen. Nachts einreiben, am nächsten Tag würde die Heilung eintreten. So war es dann auch.
Die nächste Person, die ich traf, als ich hilflos den richtigen Hörsaal der Universität suchte, war Eduardo Galeano aus Uruguay, auch er ein lebenslanger Freund und wichtiger Autor („Die offenen Adern Lateinamerikas“ und vieles mehr)

Den Nachruf auf Ernesto Cardenal werde ich sicher schreiben. Eine Tages. Wer weiß, wann. Vor wenigen Tagen erreichte mich ein Foto, das den alten Dichter im Kreis seiner engsten Freunde (mit glücklichen Gesichtern) in seiner Wohnung zeigt, vergnügt beim Frühstück! Vergnügt wohl auch, weil er auf Anweisung des Papstes wieder in sein Priesteramt eingesetzt wurde.
Sergio Ramírez sagte zur wundersamen Auferstehung: „Der alte Dichter hat sieben Leben!“
Mir geht jetzt durch den Kopf: Mindert es den Wert eines Dichters, wenn seine Wirkungsgeschichte die literarische Qualität wie in diesem Fall in den Hintergrund rücken lässt? Darum mache ich mir keine Sorgen: Das poetische Werk von Cardenal wird in aller Welt noch Generationen beschäftigen, wenn wir eines Tages längst Abschied von ihm genommen haben. Glücklicherweise wissen wir ja alle nicht, „wann unser Stündlein vorhanden ist“.

Hermann Schulz leitete von 1967 bis 2001 den Peter Hammer Verlag. Er besuchte bis zum Frühjahr 2018 Nicaragua insgesamt 26 Mal, wegen der Autoren, der vielen Freunde, Lesungen und Workshops und der Solidaritätsprojekte.

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